Die Corona-Fallzahlen in Deutschland könnten nach Einschätzung des Robert Koch-Instituts (RKI) in der kommenden Zeit dynamisch anwachsen. "Es ist damit zu rechnen, dass sich im weiteren Verlauf des Herbstes und Winters der Anstieg der Fallzahlen noch beschleunigen wird", schreibt das Institut in seinem neuen Wochenbericht zur Pandemie, der am Donnerstagabend erschienen ist.
Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz bei den Corona-Neuinfektionen ist am Freitag erneut stark gestiegen und liegt nun bei 95,1. Das RKI meldete binnen eines Tages 19.572 Neuinfektionen. Am Vortag hatte die Sieben-Tage-Inzidenz bei 85,6 gelegen, vor einer Woche hatte sie 68,7 betragen.
Heimliche Corona-Impfung
Sie wollen nicht mehr warten. Sie impfen ihre Kinder selbst. Obwohl es verboten ist
Auch Intensivmediziner schlagen Alarm, weil mangels Pflegepersonals viele Intensivbetten nicht mehr betrieben werden könnten. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) teilte am Donnerstagabend mit, es sei in der kommenden Zeit "mit einer spürbaren Einschränkung in der Versorgung der Bevölkerung zu rechnen". Derzeit seien 22.207 Intensivbetten als betreibbar gemeldet, zu Jahresbeginn seien es 26.475 gewesen. Die vergangenen Monate hätten zu einer Verschlechterung der Stimmung und zu weiteren Kündigungen von Stammpflegekräften geführt, so die Divi.
"Eine absehbar schwere Herbst- und Winterwelle" mit vielen Covid-19-Patienten, aber auch Erkrankten mit anderen Atemwegsinfektionen wie Grippe könne die Intensivmedizin in Deutschland "erneut an und über ihre Grenzen bringen", wurde Stefan Kluge zitiert, Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
Wieder mehr Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen
Laut RKI-Bericht sind wieder vermehrt Ausbrüche in medizinischen Einrichtungen sowie in Alten- und Pflegeheimen bekannt geworden. Erstmals seit der Woche vom 3. bis 9. Mai sei die Sieben-Tage-Inzidenz bei Menschen über 90 Jahren vergangene Woche wieder auf über 50 gestiegen. Mit Hygienemaßnahmen und zunehmender Durchimpfung seien solche Ausbrüche zwar deutlich zurückgegangen, sie träten aber weiterhin auf und beträfen auch Geimpfte, hieß es. Hochaltrige sind besonders gefährdet, bei einer Corona-Infektion schwere und tödliche Verläufe zu erleiden.
Allgemein schreibt das RKI, es sei "erwartbar", dass mit der Zeit mehr Impfdurchbrüche verzeichnet werden. Dabei handelt es sich um Erkrankungen bei vollständig Geimpften mit Corona-Nachweis durch einen PCR-Test. Das liege daran, dass immer mehr Menschen geimpft seien und sich das Virus derzeit wieder vermehrt ausbreite. Das klingt zunächst paradox, ist aber eine einfache Rechnung: Je höher die Fallzahlen sind, desto mehr Menschen kommen mit dem Virus in Kontakt. Das steigert die Wahrscheinlichkeit von Infektionen allgemein und auch von Impfdurchbrüchen. Problematisch ist das vor allem für ungeimpfte Personen. Schwere Krankheitsverläufe sind laut RKI bei Geimpften sehr selten. Rund 90 Prozent der Personen, die in den vergangenen Wochen wegen einer Corona-Infektion auf der Intensivstation versorgt werden mussten, waren ungeimpft.
Stiko empfiehlt Booster für Über-70-Jährige und Pflegebedürftige
Aufgefallen war in Deutschland ein hoher Anteil von Infektionen nach der Einmalimpfung mit Johnson & Johnson. Menschen, die diesen Impfstoff bekommen haben, empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) mittlerweile unabhängig vom Alter, den Schutz mit einer zusätzlichen Dosis mRNA-Impfstoff zu verbessern. Die Stiko rät auch zu Booster-Impfungen mit einem mRNA-Impfstoff für Menschen mit Immunschwäche, Pflegebedürftige in Heimen, Personen ab 70 Jahre, medizinisches Personal und Pflegepersonal.
Deutlich höhere Inzidenzen als Senioren verzeichneten laut RKI-Bericht wie bereits in den Vorwochen jüngere Altersgruppen, in denen die Impfquoten niedriger sind. Bei den Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 14 Jahren waren es vorige Woche 182 Ansteckungen pro 100.000 Einwohner. Aber auch bei Menschen im mittleren Alter (35 bis 44) lagen die Inzidenzen über dem Durchschnitt.
"Insbesondere bei jetzt deutlich steigenden Fallzahlen sollte unabhängig vom Impf-, Genesenen- oder Teststatus das grundsätzliche Infektionsrisiko und der eigene Beitrag zur Verbreitung von Sars-CoV-2 reduziert werden", appellierte das RKI. Alle Menschen wurden aufgerufen, weiter die Verhaltensregeln zum Schutz vor Ansteckungen einzuhalten (Abstand, Hygiene, Maske, Lüften, Corona-Warn-App). Unnötige enge Kontakte sollten laut RKI-Empfehlung reduziert und "Situationen insbesondere in Innenräumen, bei denen sogenannte Super-Spreading-Events auftreten können" möglichst gemieden werden.
Im vergangenen Jahr stiegen die Fallzahlen ab Oktober
Der Virologe Christian Drosten hatte bereits Ende September vor steigenden Fallzahlen im Oktober gewarnt und damals auf die Inzidenz in ostdeutschen Bundesländern verwiesen, die unabhängig vom Ferienende wieder Fahrt aufnahm. "Ich denke, da deutet sich jetzt die Herbst- und Winterwelle an, die wir im Oktober wohl wieder sehen werden", hatte der Wissenschaftler von der Berliner Charité Ende September im Podcast "Coronavirus-Update" bei NDR-Info erklärt. Drosten mahnte damals einen schnelleren Impffortschritt an.
Im vergangenen Herbst zeichnete sich ab Mitte Oktober ein exponentielles Wachstum der Fallzahlen ab. Anfang November 2020 trat der "Lockdown Light" in Kraft, der das Ziel hatte, den Anstieg der Fallzahlen auszubremsen. Die Fallzahlen stagnierten daraufhin auf höherem Niveau und begannen im Dezember erneut zu steigen. Mittlerweile ist bekannt, dass jahreszeitliche Faktoren – etwa der Aufenthalt in geschlossenen Räumen – die Ausbreitung des Coronavirus begünstigen.
Situation nicht direkt mit 2020 vergleichbar
Allerdings lässt sich die gegenwärtige Situation nicht eins zu eins mit der vor einem Jahr vergleichen – aus mehreren Gründen. Mit Delta dominiert aktuell eine hochansteckende Coronavirus-Variante. Im vergangenen Jahr standen zudem noch keine Impfstoffe zur Verfügung, die einen sehr hohen Schutz vor schweren Verläufen bieten. Politikerinnen und Politiker hatten deshalb Anfang September 2021 beschlossen, dass die Hospitalisierungsrate die Inzidenz als wichtigsten Faktor zur Bewertung des Infektionsgeschehens ablösen wird. Gleichwohl betonen viele Expertinnen und Experten aber, dass die Inzidenz weiterhin wichtig sein wird, da sie der aktuellste Indikator für die Beurteilung des Infektionsgeschehens ist.
"Die eigentliche 4. Welle hat jetzt begonnen und nimmt weiter Fahrt auf", schrieb Divi-Experte Christian Karagiannidis bei Twitter. Es gebe noch immer eine sehr enge Korrelation zwischen Inzidenz und Neuaufnahmen auf Intensivstationen. Dort ist die Zahl der Covid-19-Patienten laut Divi-Intensivregister mittlerweile wieder auf rund 1540 angestiegen.
Leif Erik Sander, Leiter der Forschungsgruppe Infektionsimmunologie und Impfstoffforschung an der Charité, mahnte auf Twitter eine höhere Impfquote an. Mit Blick auf die Situation auf den Intensivstationen, wo wieder mehr Covid-19-Patienten behandelt werden, riet er unter anderem zu Booster-Impfungen für vulnerable Gruppen und das Beibehalten von Abstands- und Hygieneregeln.
Nach Angaben des RKI haben bislang mehr als 1,5 Millionen Menschen in Deutschland eine sogenannte Auffrischungsimpfung erhalten. 66,1 Prozent der Bevölkerung sind demnach vollständig geimpft. 69,1 Prozent haben mindestens eine Impfung erhalten. Andere EU-Staaten, darunter Spanien und Portugal, kommen auf teils deutlich höhere Impfquoten.
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